DIE VERSCHWUNDENEN MÄDCHEN VON DERSİM – 2021
Emoş Güler - 3 / Alte Frau, 2021

Emoş Güler - 3 / Alte Frau

Acrylfarben

Rahmen: 52x72 cm

Bild: 30x42 cm

Nezahat Gündoğan / Regisseur

Unter dem Vorwand, eine Rebellion zu zerschlagen, verübte der türkische Staat in den Jahren 1937-38 in Dersim (Tunceli) ein großes Massaker. Dabei wurden Zehntausende getötet, ohne Unterschied zwischen Männern, Frauen oder Kindern. Tausende Familien wurden in die westtürkischen Provinzen zwangsumgesiedelt. Von da an bildeten sowohl diese Massaker als auch die Geschichte Dersims ein Tabuthema in der Türkei. In der offiziellen Geschichtsschreibung fanden diese Ereignisse entweder als “kurdischer Aufstand” oder als “feudaler Aufstand” Erwähnung. Es gab zwar auch unabhängige Forscher, die die Ereignisse in Dersim untersuchten. Aber selbst in Arbeiten, die eine von der offiziellen Geschichtsschreibung abweichende Perspektive aufwiesen, wurden die Opfer von Dersim als Verluste dargestellt, die sich im Verlaufe der Zerschlagung des “kurdischen Aufstandes” angeblich zwangläufi g ergaben. Eine solche Eınschätzung erfolgte selbst dann, wenn die Ereignisse als Massaker eingestuft wurden. Obwohl wir dank der alternativen Forschungsarbeiten der letzten Jahre viel mehr über das Schicksal der bei dieser militärischen Intervention ermordeten und zwangsumgesiedelten Bevölkerung von Dersim erfahren haben, blieb das Schicksal der Mädchen, die die Massaker überlebten und von Offizieren weggebracht wurden, unbekannt. Zusammen mit Kazım Gündoğan haben wir im Rahmen unserer Feldforschung aufgedeckt, dass Mädchen aus Dersim an Angehörige der militärischen und zivilen Bürokratie verteilt wurden. Ziel dieser Maßnahme war es, die alevitischkurdischen, zazaischen und armenischen Mädchen an die türkisch-islamische Kultur zu assimilieren. Anhand unserer Forschungsarbeit von 2009, die wir “Die verschwundenen Mädchen von Dersim” genannt haben, haben wir das Schicksal dieser Mädchen öffentlich gemacht und auch die Tatsache, dass es sich bei den Ereignissen in Dersim 1937-38 um Massaker handelt, wieder auf die Tagesordnung gesetzt.

Der Fluss Munzur Blutete

An der Operation nahmen 40.000 Soldaten teil. Die Luft- und Landstreitkräfte setzten schwere Waffen ein. Die Dörfer wurden bombardiert, niedergebrannt, die Dorfbewohner zusammengetrieben und erschossen, von Klippen gestoßen oder angezündet und ermordet. Gegen Frauen, Kinder und Männer, die sich in den Höhlen versteckten, setzte man Giftgas ein. Die genaue Zahl der Getöteten und Deportierten von Dersim ist nicht bekannt.

DIE GETÖTEN KURDEN WURDEN IN DEN
MUNZUR-FLUSS GEWORFEN UND DER
MUNZUR LIEF ROT

Dersim im staatlichen Diskurs

Dersim war gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Region, in der verschiedene Ethnien wie z.B. Armenier, Kurden, Zaza und Turkmenen sowie unterschiedliche Religionen beheimatet waren, wobei die alevitische Bevölkerungsgruppe dominierte. Gerade weil die Mehrheit der Bevölkerung von Dersim nicht zum sunnitischen Islam gehörte, blieb Dersim innerhalb des sunnitisch geprägten osmanischen Staates und auch im Laufe des gewaltsamen Entstehungsprozesses des türkischen Nationalstaates eine ausgegrenzte und diskriminierte Region. Das Bestreben, das Gebiet und seine Bevölkerungsgruppen unter Kontrolle zu bringen, das seit Beginn der osmanischen Ära präsent war, vermengte sich nach der Gründung der türkischen Republik mit der nationalistischen Ideologie, so dass die Staatspolitik der Assimilation noch systematischer und rigoroser angewendet wurde.

 

So beauftragte die türkische Regierung ab 1926 militärische und zivile Bürokraten damit, Berichte über Dersim zu erstellen. In fast all diesen Berichten wird empfohlen, die Bevölkerung von Dersim zu “entwaffenen”, die Stammesführer bzw. die ungehorsamen Stämme in die westtürkischen Provinzen zwangsumzusiedeln, das solcherart entvölkerte Gebiet durch Ansiedlung von türkischen Bevölkerungsgruppen und durch spezielle Erziehungsmaßnahmen für die verbliebene nicht-türkische Bevölkerung zu türkisieren, die nomadisierenden Bevölkerun steile sesshaft zu machen und sie so zu erfassen. All das sollte stufenweise umgesetzt werden. 1937 erklärte der damalige Ministerpräsident Ismet Inönü nach den Massakern in der Region die militärische Aktion für beendet. Unter der Regierung von Celal Bayar, welcher von Atatürk, der diese erste militärische Aktion für nicht ausreichend erachtete, zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, wurde im Jahre 1938 eine zweite und größere Militäroffensive durchgeführt, die dieses Mal das Ausmaß eines Völkermordes erreichte.

Die entwurzelten Mädchen

Das Alter dieser Mädchen betrug zwischen 3 und 14 Jahren, die meisten von ihnen waren zwischen 5 und 10 Jahre alt. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie sich in einer Entwicklungsphase befanden, in der sie noch dabei waren sich selbst, ihr Umfeld, ihre Kultur und ihre Sprache zu entdecken und das kollektive Gedächtnis ihrer Gemeinschaft noch nicht verinnerlicht hatten. Kurz gesagt, ihre Identität war im Entstehen und noch ungefestigt. Somit waren sie in einem Alter, in dem man sie ohne große Schwierigkeiten ihren Familien und ihrer Heimat entreißen und assimilieren konnte.

 

Ein anderer Punkt, der uns auffiel, war die soziale Stellung der Familien, denen die Mädchen übergeben wurden. Es waren Familien, die der mittleren oder oberen Schicht der türkischen Gesellschaft angehörten. Das war sicherlich kein Zufall, denn sowohl das gute Verhältnis der mittleren und oberen Schichten zu den politischen Kadern des Regimes, als auch ihre Unterstützung des Modernisierungsprojekts ließ diese Familien für die staatlichen Behörden vertrauenswürdig und zuverlässig erscheinen. Im Laufe unserer Recherchen stellten wir fest, dass während der Massaker nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder, d.h. Jungen und Mädchen gleichermaßen getötet wurden. Die überlebenden Jungen und Mädchen aber wurden unterschiedlich behandelt. Einige der Mädchen steckte man in Sammellager in Erzincan und Elazığ, wo die “gesunden und schönen” von Offizieren aussortiert wurden. Die Mädchen, die als “krank und hässlich” betrachtet wurden, setzte man in Züge und verteilte sie auf der Strecke an jeder Station an Honoratioren und Staatsbeamte. Der weibliche Körper war also Gegenstand einer Selektion, wobei Anzeichen für Fruchtbarkeit und Weiblichkeit bei der “Auswahl” eine entscheidende Rolle spielten. Die Waisenjungen aber kamen ins Waisenhaus. Unsere Bemühungen, die verschwundenen Mädchen zu finden und ihre Lebensgeschichten zu dokumentieren, gehen weiter.